Interview mit dem Natistaff 4

vom 27 Januar 2010 - 17 Tage bis Spiel 1

Das grosse Interview zum Dezember, Januar, zu den Selektionen und zu den olympischen Spielen!

Wenige Tage vor dem Abflug nach Kanada gab der Staff der A-Nationalmannschaft noch einmal einen Ein- und Ausblick ins Nationalteam.

Frauennati.ch: René, Michael, das Kader ist bestimmt, der „Schuss draussen“, erleichtert?
René Kammerer, Head Coach (RK): „Ja und nein. Erleichtert, weil ein fast zwei jähriger Prozess abgeschlossen worden ist. In Summe gingen über 40 Spielerinnen in den Konkurrenzkampf, und haben „ja“ zu dieser grossen Herausforderung gesagt. Wir haben nun die endgültigen Namen definiert. Das freut mich für diese.
Ich verstehe aber auch die Enttäuschung und zum Teil auch die Wut derjenigen, die es nicht ganz geschafft haben. Diese negativen Selektionsentscheide tun mir auch weh, aber sie sind ein Teil des Prozesses. Wir alle haben gewusst, dass dieser Moment kommen wird. Ich brauche sicher noch ein paar Tage, bis ich das alles verarbeitet habe.“
Michael Fischer, Assistant Coach (MF): „Freude vor allem ist was ich fühle, Freude für die Selektierten und dass sie olympische Spiele erleben dürfen.
Erleichtert nicht unbedingt denn in diesem Moment denke ich auch an all jene, welche den Weg nicht bis zu Ende gehen können. Solche Selektionen vor allem im Olympiawinter gehen unter die Haut. Da stürzen Welten ein, da gehen Hoffnungen zu Ende. Wir werden alles tun in Vancouver, damit die Träume gerade dieser Spielerinnen irgendwie mit in Erfüllung gehen können. Wir werden sie nicht enttäuschen“.

Reden wir zuerst aber von der Vergangenheit. Ihr wolltet keine Interviews geben bis das Kader veröffentlich wurde. Deshalb holen wir das jetzt nach :) – also Gratulation zum Sieg am Mountain Cup und zu Silber am MLP Nations Cup. Dazu ein 9:0 in Reinach gegen das amerikanische Collegeteam. Super! Erzählt:
RK: „Dieser Erfolg am Mountain Cup tat allen sehr gut. Zu sehen, dass sich die Arbeit bis dahin gelohnt hat. Dass die Resultate teilweise so klar wurden, ist für uns sicher erfreulich. In Reinach haben wir vor allem viel trainiert, unser Spiel entwickelt und Feinarbeit betrieben. In diesen beiden Zusammenzügen haben wir in 5 Spielen 37 Tore erzielt! Und im Gegenzug gerade einmal 5 bekommen. Ich denke, das ist ein Leistungsausweis“.
MF: „Und dann kam der MLP. Am 4. Januar besammelten wir in Romanshorn für ein Training und eine Übernachtung und fuhren dann am Matchtag nach Ravensburg. Das hatte vor allem einen logistischen und finanziellen Hintergrund. Alles klappte bestens und unsere Beine trugen uns weit. Wir schafften das immerhin beste Resultat je gegen eine kanadische Auswahl. Zumindest behaupte ich das jetzt. „Nur“ 1:4 verloren und viele Komplimente. Darauf liess sich aufbauen. Anderntags aber büssten wir etwas dafür und hatten Mühe den entscheidenden Schritt Vorsprung gegen die Deutschen zu fahren. So mussten wir richtig ackern für die Tore und kassierten im Gegenzug die eine oder andere unnötige Klatsche. Dass wir Sophie Anthamatten vom Eis nehmen mussten war schon hart. Aber nötig. Das Zeichen verstanden wir und kassierten keine Treffer mehr. Wir konnten den Rückstand wett machen und in der Overtime den Sack zu machen. Das war ein immens wichtiger Sieg auch für die Moral. So konnten wir nochmals zwei Spiele gegen Top Gegner austragen und das war uns wichtig. Dann aber kam dieser Virus und die Mannschaft dezimierte sich fast halbstündlich am Abend und am anderen, zum Glück spielfreien Tag. Dort war dann das Fernsehen zugegen für eine Medienschulung. Das heisst sie waren schon am Abend zuvor im Stadion. Dazu kamen noch zwei Vertreter des Verbandes. Alle staunten sie über die fantastische Stimmung im Stadion. Trotz dem es nur zur Hälfte gefüllt war tobten und stampften die 1‘700 Fans die Deutschen nach vorne. Es war phänomenal! So mussten wir also am Donnerstag Abend die Turnierleitung informieren dass wir wohl am andere Tag „Verstärkung“ brauchen würden. Spontan sagten uns die spielfreien Deutschen einen Block zu. Als wir am Morgen des Halbfinals das Team informierten aber standen die verbliebenen Spielerinnen auf und sagten sie wollten mit denen spielen die noch können. Wir akzeptierten das und nahmen ihnen gleichzeitig das Versprechen ab, am Abend aber auch bereit zu sein. Ich selbst lag auch flach und schlief den halben Tag in meinem Zimmer. So dass ich am Abend wenigstens an den Match gehen konnte. Und was ich dort sah geht wieder einmal unter das Kapitel „unglaublich, aber Schweizer Nati“. Mit 13 Spielerinnen standen wir dem vollen Olympia Line-up der überraschenden Russinnen gegenüber. Und wir führten mit 1:0 zur ersten Pause. Danach ging es aber schnell und wir lagen mit 1:3 und 3:5 hinten. Immer aber wieder bäumten sich unsere Spielerinnen auf und rannten als ob es kein Morgen mehr gäbe. Und tatsächlich schafften wir den Ausgleich wieder. Und besser noch. Wir retteten uns in die Verlängerung. Der Rest ist Geschichte. 4 gegen 3 Powerplay, ein Konter gegen uns den Slöngi ganz cool abwehrte und wenige Sekunden später dann doch noch die Lücke, das Tor und diese Explosion der Gefühle. Wahnsinn. 500 Zuschauer standen auf und klatschten minutenlang. Was für ein Spiel.
Bin ich zu lange? Sorry, aber das war echt too much. Leider fehlten uns am anderen Tag die Kräfte um den Kanadierinnen nochmals ein enges Spiel abzutrotzen. Aber man hat mit diesem zweiten Platz doch eine Duftmarke gesetzt, gezeigt zu was man alles fähig ist wenn es im Herz und Kopf stimmt. Und so gesehen sind wir sicher mit einem sehr guten Gefühl wieder nach Hause gefahren“.

Wir haben die Weihnachts-/Neujahrszusammenzüge mitverfolgt. Und mitgefiebert! Da werden Erinnerungen wach an das Jahr zuvor. In Chur seid ihr fast erfroren, hattet viele Ausfälle durch Verletzungen und Krankheiten und seid am MLP mit 3 Niederlagen an das Tabellenende durchgereicht worden. Am Mountain Cup habt ihr den Titel verloren und musstet anschliessend an der WM in die Relegation. Und erst an diesem Scheideweg habt ihr zu alter Stärke gefunden und nun bis heute in dieser Saison in 18 Spielen 13-mal gewonnen. Bei nur 3 Niederlagen. Wie erklärst du dir diese zwei Gesichter und was leitest du daraus für die Spiele in Vancouver ab, René?
RK: „Die Saison 08-09 war extrem hart und anspruchsvoll. Wir haben dort viel Risiko genommen, und bereits einige Vorbereitungen im Hinblick Vancouver einfliessen lassen. Das Team hat Charakter gezeigt,  Moral bewiesen.  Es war – zugegeben - eine Gratwanderung, umso glücklicher bin ich jetzt, dass die Richtung stimmt. Für Vancouver, nun, wir können selbstbewusst und mit Selbstvertrauen nach Kanada reisen, und in die Spiele gehen. Eins muss allen klar sein, wir sind und bleiben Aussenseiter. Schweden ist auf Mission Gold! Das haben sie eben wieder öffentlich bestätigt. Kanada muss nicht weiter erläutert werden. Uns gefällt diese Rolle“.

Nun ist das Kader bekannt. Was sagst du zum Olympiateam?
RK: „Dieses Kader hat sich in den vergangenen Monaten entwickelt. An einem Turnier dieser Grösse und Dauer kann immer irgendetwas passieren. Wir haben diesem Aspekt Rechung getragen, und können flexibel reagieren. Jede Spielerin muss ihre Rolle kennen, diese akzeptieren und dann natürlich auch umsetzen können. Wir sind überzeugt von unseren Entscheidungen“.

Man hört hier und dort, das Team sei extrem jung. Was entgegnest du diesen Rumors?
RK: „Nicht alt oder jung ist entscheidend. Entscheidend ist, welches Team am Schluss als Ganzes die beste Leistung abgibt. Über die vergangenen Monate, wenn nicht Jahre, ist diese Zusammensetzung entstanden. Übrigens haben alle Spielerinnen internationale Erfahrungen gesammelt.“

Merci René, es ist schön dein Feuer zu spüren! Feuer wird dann am 12. Februar entzündet, dem Tag an welchem ihr die Spielerliste abgeben dürft. Was steht auf den Listen eurer Gegnerinnen dann?
Daniel Hüni, Assistant Coach (DH): „Nun, Schweden hat sein Kader schon länger bekannt gegeben und sich selbst die „Mission Gold“ auferlegt. Sie schöpfen in Vancouver aus dem vollen und werden sicher als Medaillenkandidatinnen ins Rennen gehen. Immerhin sind sie auch die Silbermedaillengewinnerinnen aus Turin. Sie müssen in Vancouver. Wir werden sehen wie sie damit umgehen werden.
Kanada hat seine Nominationen auch schon vor den Weihnachten bekannt gegeben. Sie sind für mich trotz den beiden verlorenen WM-Finals der letzten beiden Jahre die Goldfavoritinnen. Zu was sie auf home ice fähig sind haben wir in Winnipeg gesehen 2007. Und Vancouver wird das nochmals toppen. Da man bei ihnen nicht von selbstauferlegtem Druck reden kann, da sie eigentlich immer in der Bringschuld der Goldmedaille stehen, werden sie in Vancouver bis im Final keine Konkurrenz haben. Das steht für mich eigentlich fest. Nur die USA kann ihnen eigentlich gefährlich werden. Oder wir natürlich.
Die Slowakei baut auf ihren Topgoalie Tomicikova. Sie half ihnen zu einer Traumsaison 2008/2009 mit der Quali für Vancouver und dem Aufstieg in die Top Division in Graz. Das bedeutet 3 gewonnene IIHF-Turniere in einer Saison! Jetzt stehen sie vor ihren ersten olympischen Spielen. Wie wir vor vier Jahren. Ich kann mich in sie hinein fühlen und weiss welche Mechanismen nun laufen. Sie werden mit einer grossen Euphorie durch die Spiele gehen. Und wir werden eine Topleistung gegen sie brauchen.
In der anderen Gruppe wird es zwischen Russland und Finnland um den zweiten Platz gehen. Den Gruppensieg sollte sich die USA holen. Sie haben von Turin was gut zu machen und haben sich entsprechend vorbereitet. Man kann sagen mit 2 WM-Titeln. Finnland baut auf bewährte Kräfte und auch sie haben eine sehr starke Torfrau. Russland besteht auf lauter Profis und hat technisch grosse Fortschritte gemacht. Sie zwangen Finnland am MLP in die Overtime und schlugen die Schwedinnen. Das wird ein ganz heisses Duell am zweiten Spieltag zwischen den beiden. Bleibt noch China. Sie haben nach der WM in Finnland kurzerhand den Trainer in die Wüste geschickt und gleich den in Finnland freigestellten Saintula geholt. Sie sind wie immer mit einem grossen zeitlichen Aufwand in der Welt unterwegs und feilen am x-ten System mit dem x-ten Trainer. Wir können erst in Vancouver sagen wie gut sie wirklich sind. Dass sie stark sind steht ausser Frage. Aber wie weit es dann wirklich reicht. Wer weiss. Ohne Abstiegsdruck können aus ihnen plötzlich Heldinnen werden“.

So kommt die obligate Frage nach dem Resultatziel. Wo wollt ihr hin, René?
RK: „Die Top 6 zu erreichen ist unser primäres Ziel“.

Keine Ambitionen nach vorne, immerhin seid ihr am MLP im Final gestanden?
RK: „Nun, aufgrund unserer Möglichkeiten müssen wir bescheiden bleiben. Am MLP hat vieles gepasst, wir erwarten nichts, geben alles. Wer weiss, im Sport ist die eine oder andere Überraschung immer möglich! “

Wenn wir von Ambitionen reden. Pipo, am Sonntag konnte man erfahren, dass eine Spielerin aus eurem Kader gar den offiziellen Schweizer Olympiasong lanciert hat. Wie kam es denn dazu?
Philipp Steiner, Team Manager (PS): „Ja, das stimmt. Kathrin Lehmann wurde von einem ehemaligen Natitrainer angesprochen, ob sie denn einen Song habe der sie motiviert vor Spielen. Da Ka sich selber eingestehen musste dass das eigentlich auf keinen Song so richtig zutrifft hat sie gleich selber einen Text geschrieben und ihn dann von einem bekannten Produzenten in eine Melodie verpacken lassen. Zusammen mit einer Sängerin und einem Teil der Natispielerinnen als Chor hat sie den Song dann eingespielt. Swiss Olympic bekam Wind davon und war so begeistert dass sie den Song glatt als den offiziellen Schweizer Olympiasong erkoren haben. Mir bleibt nur das Staunen, absolut im positiven Sinn. Aber hör dir den Song doch selbst an, Links hat es ja auf der Homepage genug ;)“

Was macht ihr denn nun bis zum Abflug noch?
MF: „ganz einfach: arbeiten! Ich arbeite noch bis am Freitag ehe wir am Sonntag abfliegen, René und ich. Dazwischen muss ich noch packen und Gewicht zusammenrechnen. Ungefähr 1000 Dinge sonst noch tun. Aber das mache ich mit links. Die Vorfreude gibt enorm viel Kraft und Energie.

Am Wochenende fasst ihr auch das ganze Swiss Olympic Material. Beschreib uns das Gefühl und was ihr da alles erhaltet:
RK: „Das Gefühl? Jetzt geht es los. Und es wird allen das erste mal bewusst, um welche Dimension es sich handelt. Es ist schon gewaltig. Es wird eine ganze Menge werden“.
DH: „Ich denke, es muss das Ziel eines jeden Sportlers sein, einmal bei der Ausrüstung mit Olympiakleider dabei zu sein. Nicht weil ich jetzt dieses Privileg habe, aber weil es wie eine Anerkennung ist. Anerkennung dass das was du für deinen Sport und dein Land getan hast und tun wirst anerkannt wird. So wie: hier nimm und trag es mit Stolz, denn du bist auserwählt unsere Farben an den Wettkämpfen zu tragen und mit Stolz zu erfüllen. Ich sehe es wie eine Verpflichtung an, wie die Stoff gewordene Hoffnung und Erwartung deines Landes. Es hat etwas Überwältigendes.

Überwältigend ist auch die Materialschlacht. Ihr nehmt alle zusammen rund 4 Tonnen Gepäck, Material, Ausrüstungen und Kleider mit in den Flieger. Eine Herausforderung?
PS: „Sicher, aber wir haben auch lange geplant. Eng begleitet durch Verband und Swiss Olympic haben wir das organisiert. Wir sind froh dass die Fluggesellschaft jedem von uns 128 kg Freigepäck erlaubt. So müssen wir vorab keine Fracht senden so wie wir das die letzten beiden WMs machen mussten. Das erleichtert vieles. Sehr vieles sogar. Einzig bei jenen Spielerinnen die aus Nordamerika anreisen musste das mit dem Gepäck etwas feiner justiert werden. Aber auch da sind wir gut aufgestellt. Der 1. Februar kann also ruhig kommen.“

Was erwartet euch in Winnipeg?
RK: „Zunächst sicher viel Arbeit. Im technischen und taktischen Sinn. Die richtige Balance zwischen Spannung und Entspannung finden. Die Zeitumstellung verarbeiten. Winnipeg wird eine Olympic Spirit Town sein – so haben sie es uns gesagt. Es wird wohl schon was los sein da. Die Delegation soll lernen zu geniessen, aber den Fokus auf das wesentliche zu behalten.  Lernen mit dieser Ablenkung umzugehen. Und wer weiss, vielleicht ist auch gar nichts los, und wir trainieren nur, auch das kann passieren. Uns dürfen beide extreme nicht beeinflussen. Unsere Leistung auf dem Eis zählt. Dazu sind wir dort“.

Ja und dann geht es am 9. Februar an die Westküste, ins Getöse der olympischen Spiele. Ralph Krüger hat an der „get together“ vom vergangenen Donnerstag gesagt, sein Team habe Erfahrungen aus Turin und Salt Lake mitgenommen wo die Eröffnungsfeierlichkeiten fast wichtiger gewesen sind als das Turnier, was dann in Turin schon wieder besser war. Was spürst du für einen Unterschied dieses mal?
RK: „Wir haben diese Erfahrung in Turin gemacht. Wir haben die Spiele von Peking beobachtet. Mit dem Team wurden und werden diese Punkte thematisiert. Wir haben olympische Erfahrung in der Delegation. Das hilft. Ich spüre natürlich diese Verlockung, die Versuchungen sind unglaublich gross. Ich bin überzeugt, dass wir damit umgehen können“.

Schön, wir freuen uns mit euch! Dies war das letzte Interview vor den Spielen. Ab Vancouver wird ja die Berichterstattung aus rechtlichen Gründen nur noch über die offiziellen Kanäle erlaubt sein. Wir werden uns als im Pre Camp nochmals sprechen. Bis dahin und dann vor allem für danach alles Gute und viel Erfolg an den Spielen. Gratulation nochmals zu den Resultaten der vergangenen Wochen und freut euch! Freut euch wirklich auf diese Herausforderung.